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Maryvonne Hagby

Fiat Pax? Die Königstochter von Frankreich des Hans von Bühel und die Entstehung des Hundertjährigen Krieges

Fiat Pax ? La Königstochter von Frankreich de Hans von Bühel et la naissance de la guerre de Cent Ans

1Als Hans von Bühel Die Königstochter von Frankreich1 um das Jahr 1400 dichtet, befindet sich Europa in einer ruhigeren Phase des Hundertjährigen Kriegs – einer Zeit, die der Auftraggeber des alemannischen Autors, der Bischof von Köln Friedrich III. von Saarwerden, nutzt, um (den Interessen des Reiches und seines Hofes entsprechend) die Seite zu wechseln und Partei für die englischen Könige zu ergreifen.

2In diesem Kontext entsteht Die Königstochter von Frankreich des Hans von Bühel als ein Liebes- und Abenteuerroman, in dem der Autor sich ausdrücklich vornimmt, die Entstehung des noch zeitgenössischen Krieges in der volkssprachigen beliebten Romanform zu erklären: „Nu hond ir wol verstanden mich / Wa der krieg dan her ist kummen (V. 8194–8197). Schon hier ist klar: Das Werk vermittelt eine Wahrheit bzw. inszeniert eine Wirklichkeit, die nicht nur poetologischer, sondern auch politischer Natur sein will. Dabei handelt es sich in keiner Hinsicht um einen chronikalisch-historischen Text, selbst wenn an einigen vereinzelten Stellen manche Bilder und Beglaubigungsmittel aus der Tradition des historischen Erzählens stammen – so zum Beispiel das Quadrieren der Wappen Englands und Frankreichs durch den jungen englischen Königssohn, das als Datierung instrumentalisiert wird. Doch Die Königstochter von Frankreich bleibt ein fiktionaler Liebes- und Abenteuerroman: Ihr Autor wählt als Hintergrund der Handlung einen in Europa weit verbreiteten, in der deutschen mittelalterlichen Epik durch den Roman Mai und Beaflor bekannten Stoff, den er treu bearbeitet: den Manekine-Stoff.

3Hans von Bühel ist in dieser Tradition nicht der einzige Autor, der diesen Stoff mit dem Hundertjährigen Krieg verbindet2. Tatsächlich ist die Kombination der fiktionalen Erzählung mit den Themen des Krieges und des Friedens sehr naheliegend: Erzählt werden die Wirrungen einer verleumdeten und verfolgten Jungfrau, die aufgrund ihrer Schönheit und Vorbildlichkeit an zwei Höfen Neid und Rache verursacht. Ihre Verfolgung führt zu familiären Konflikten, die am Schluss der Handlung aufgrund der besonderen Tugendhaftigkeit der Heldin behoben werden. Der Manekine-Stoff sieht (wie alle Biographien verfolgter und verleumdeter Jungfrauen) ein Happy End vor, das die Wiederherstellung der durch Inzestbegehren und Brieffälschung zerstörten figuralen Kommunikation bewirkt. Hans von Bühel verlängert allerdings die Handlung um ca. ein Fünftel: Nach dem frühen Tod der Königstochter soll ihr Sohn beide Kronen erben. Diese Vorstellung lehnen die französischen Räte ab und wählen einen entfernten Verwandten der Verstorbenen als König Frankreichs, was unmittelbar zum Krieg zwischen den beiden Ländern führt.

Kriec und strît

4In der Handlung der Königstochter von Frankreich spielen Kriege erwartungsgemäß eine große Rolle, selbst wenn der Hundertjährige Krieg erst am Ende des Werks anfängt und nur knapp dargestellt wird: Im Erzählerbericht, in der figuralen Kommunikation oder in den Kapiteltiteln der Drucke, wird das mhd. Wort kriec 23-mal benutzt, strît viermal. Die Krisen und Konflikte, die die Biographie der Königstochter strukturieren, lassen sich wie folgt auflisten3: Zunächst werden (am traditionellen fiktionalen Stoff entlang) der Konflikt zwischen Vater und Tochter am französischen Hof erzählt (Inzest-Versuch); dann der Konflikt zwischen Mutter und Sohn am englischen Hof (Brieffälschung und ihre Folgen) beschrieben. Während der Episode der Brieffälschung muss der junge englische König ein erstes Mal gegen die Schotten kämpfen, die ihn angegriffen haben. Er besiegt sie, doch die Feinde greifen ihn nach einigen Jahren wieder an. Dieser zweite Schottenkrieg führt erneut zum Sieg des englischen Königs, aber auch zum Tod seiner Frau, die die Wirren der Doppelherrschaft und der Trennung von Mann und Sohn nicht erträgt.

5Als die Schotten den englischen König zum ersten Mal angreifen, empfehlen ihm seine Räte, die Feinde in ihre Grenzen zurückzuweisen. Der Krieg wird handlungsimmanent begründet:

V. 1305–1309: Die rette sprachent: ‚herre mein, / Jr müssent vff, wan daz mß sein, / Wann ir sind vnser aller trost. / Sol üwer land werden erloßt, / Das mß vast an üch lygen.

6Nur der junge König kann als Herrscher das Land und seine Ehre schützen, sowohl Entscheidung als auch Durchführung liegen in seiner Hand. Dennoch fällt die Darstellung der Kampfhandlung durch die klare Ablehnung des Heroischen auf: Betont wird die gerechte Motivation, die Tugendhaftigkeit und hövescheit des Helden – aber auch die Feigheit der Gegner, die sofort die Flucht ergreifen, sodass kaum gekämpft wird (vgl. V. 1523–1542). Die Kämpfe des englischen Königs in Schottland sind sachlich, beinah chronikalisch erzählte Abwehrkriege, deren Folgen in der Biographie der Helden mehrfach betont werden. Erzähltechnisch bleiben sie fern von höfisch-romanhaften oder gar heldenepischen Kriegsdarstellungen, denn sie schöpfen ihre Tragik ausschließlich aus der Handlung – aus der Tatsache, dass sie das Heldenpaar trennen. Sie entstehen klar aus einer Unrechtssituation und werden entsprechend legitimiert.

7Der am längsten beschriebene Konflikt ist die Fehde zwischen dem englischen König und seiner Mutter, die die Kontrahenten in eine mehrjährige Belagerung und einen Krieg verwickeln, der zur Tötung der Mutter durch den eigenen Sohn führt. In diesem familiären Kontext ist nicht ausdrücklich von kriec die Rede. Vielmehr werden die Widerspenstigkeit der Königsmutter (V. 3923–3928) sowie die Unversöhnlichkeit ihres Sohnes beschrieben (V. 4020–4023). Schuldig werden beide in dieser Fehde, denn die unangemessene Verurteilung der Königsmutter ist von einer kriminellen Gewalttat kaum zu unterscheiden4. Dargestellt werden zahlreiche, redundante Streitgespräche zwischen Mutter und Sohn und die Belagerung der Burg der Königsmutter; Kämpfe werden nicht beschrieben.

8Der Hundertjährige Krieg wird erst am Ende des Romans kurz thematisiert – als noch wütender Kampf zwischen Frankreich und England. In den Grüninger Drucken wird er durch ein ganzseitiges Bild illustriert5:

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Abbildung 1: Der Hundertjährige Krieg6.

9Dieses Bild zeichnet den Krieg sorgfältig: Links kämpfen die Franzosen unter der königlichen Krone und den drei Lilien; rechts ist das quadrierte Wappen der Engländer zu erkennen, das Löwen und Lilien vereint. Im Text wird der Konflikt durch einen knappen Erzählerkommentar begründet, der sehr klar Romanhandlung und Gegenwart der Rezipienten verbindet:

V. 8194–8205: Der krieg werte auch ye syder / Zwischen Engellant und franckrych. / Nu hond ir wol verstanden mich / Wa der krieg dan her ist kummen. / So hond ir auch wol vernummen / Warumb er auch franckrych fürt / Das auch da selbes her rürt. / So sint ir uch dyß wol ermant / Das ein künig von Engellant / Noch hüt dyß tags franckrich anspricht / Vnd wa er mag, das er das richt, / Wann sie meinent recht dar zuͦ hon.

10An dieser Stelle (wie im gesamten Roman) stellt Hans von Bühel Krieg sowohl als politisches Chaos als auch als legitimierte Gewalt dar und baut das Verhältnis zwischen fiktionalen Stoffvorgaben und historischem Realismus (d.h. vereinfachend zwischen story und history) auf klar binäre, mythologisierende Analogien auf.

Vride und suͦn

11Da der Roman sich vornimmt, die Entstehung des Hundertjährigen Krieges zu erklären, führt die Handlung, wie gerade ersichtlich, zur Darstellung der den Krieg vorangehender und verursachender Auseinandersetzungen – seltener allerdings zur Beschreibung der ihnen folgenden Friedensbemühungen und -schlüssen. Darin liegt ein Charakteristikum der Antonymie von Krieg und Frieden, das das Werk mit der mittelalterlichen Heldenepik teilt7: Weder zu den schottischen Kriegen noch zur Fehde zwischen dem englischen König und seiner Mutter wird Friede beschrieben, sondern lediglich die währende Unmöglichkeit, einen Frieden zu schließen – dies vielleicht weil um 1400 am Ende des Werkes kein Friedensschluss gezeigt werden konnte. Um diese Erzählhaltung zu verdeutlichen, soll im Folgenden in einem ersten Schritt aufgelistet werden, in welchen semantischen Kontexten vride und suͦn im alemannischen Roman erwähnt werden. In der Königstochter von Frankreich erscheinen das Wort vride in den Varianten frid und fryd insgesamt an 13 bzw. 14 Stellen:

  • V. 3648, 3655, 3658, 3661, 3722, 3731, 3735, 3802, 3832, 3843, 3849, 3914 in Verbindung mit dem Kampf Königsmutter/Sohn;

  • V. 7841 im Druck von 1508 und V. 7877 in Verbindung mit den schottischen Kriegen.

Parallel dazu erscheint das Wort suͦn im Text drei bzw. viermal8:

  • V. 1176, als der Königstochter am englischen Hof schirm und sn versprochen wird;

  • V. 5384, als der Papst den französischen König fragt, in welcher Absicht er seinen Hof besucht;

  • V. 6578, als der französische König dem Papst Schutz im Kampf gegen Feinde verspricht;

  • V. 7841 im Druck von 15009.

12Die einzigen zwei Stellen, an denen ein Friedensschluss zwischen den Engländern und den Schotten in der Königstochter von Frankreich angesprochen wird (Also ir ein frid hettent gesprochen“, so V. 7841 im Druck von 1508; Die Schotten hond den friden brochen“, V. 7877), erzählen rückwirkend, dass die Schotten den Sieg- und Diktatfrieden brechen, den der englische König ihnen offensichtlich erzwang. Im Fall der Fehde zwischen der Königsmutter und ihrem Sohn wird dieser Befund noch deutlicher: Sowohl V. 3637 (Da begert die alte küniginn, / Das man ein fryden macht ein stund.“) als auch V. 3655, 3658, 3661, 3731, 3735, 3832, 3843 und 3849 meint der Erzähler keinen ‚richtigen’, möglichst dauerhaften Frieden, sondern grundsätzlich einen (ein- bis zweistündigen) Waffenstillstand, der während der Belagerung der Burg der Königsmutter wiederholt Gespräche zwischen Mutter und Sohn erlauben soll. Hier kennzeichnet vride eine Pause zwischen zwei Phasen des Krieges. Die Erwähnung dieser Waffenstillstände bilden mit Abstand die meisten Stellen (9 von 14), die das Wort vride beinhalten.

13Die beiden nächsten Stellen erweisen sich als genauso wenig ergiebig; auch sie zeichnen keine Wege oder Verfahren auf der Suche nach einem Friedensschluss, keine verhandelbare oder verhandelte Konfliktbehebung. In V. 3903–3922 stellt der Königssohn in der Fehde gegen seine Mutter die Bedingungen für ein Ende des Krieges unmissverständlich vor: Die Königsmutter soll öffentlich ihre Schuld bekennen, bevor sie in London verbrannt wird. Das Wort vride selbst kennzeichnet erneut den Waffenstillstand, der dazu ausgerufen wurde: Hie mit, frowe, so gond hin in, / Der fryd sol schnell vß sin.“ (V. 3913f.). An dieser Stelle diktiert ein zorniger König einen Frieden, der keine Widerrede duldet:

V. 3918–3922: Sagt aber ir mir den rechten grund, / Jetz offenlich an der zynnen. / Do für ich üch mit mir von hinnen / Vntz gen Lunden in die statt, / Da selb üwer leben ein end hat.

14Wie am Ende der schottischen Kriege verbindet dieser Diktatfriede Krieg und Frieden absolut antonymisch und erweist sich in der Handlung als genauso hoffnungslos. In Vers 3803 wird vride ähnlich als (hier nicht stattfindende) Pause, d.h. erneut als Zeit der Ruhe verstanden: Vor dem schloß zwei gantze iare / Lag der künig, das ist ware, / Das nie tag zwo stunden fryd wardt.“ (V. 3801–3803).

15Die letzte Stelle (V. 3722) ist insofern interessanter, als dort ein Zustand des Friedens tatsächlich in Aussicht gestellt wird – selbst wenn dies erneut unter negativem Vorzeichen geschieht, denn die beiden Protagonisten zeigen in diesem Gespräch, dass sie kompromisslos weiter streiten wollen. Tatsächlich führt die Hoffnung auf einen Sieg, die die Königsmutter in V. 3709–3722 anspricht, zur Weiterführung des Krieges: Sie sprach: ‚das hoffen, das du hast, / Das wille ich auch haben vast, / Alle die wile das ich mag, / Es sy doch fride nümmer tag.’“ (V. 3719–3722). Hier wird fride als Gegensatz von Krieg, als Zustand verstanden, der am Ende des Krieges eintritt.

16Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Fehde, bei der das Wort vride am häufigsten vorkommt, am englischen Hof lediglich durch die Verurteilung und den Tod der Mutter beendet werden kann. Die beiden schottischen Kriege enden in einem ähnlich einseitig diktierten (nicht ausdrücklich erwähnten) Frieden, den die Feinde des Helden immer wieder brechen. Als Ergebnis kultureller Konfigurationen bestätigt die Darstellung beider Kriegssituationen, dass der (wenn auch selten benannte) Friede im alemannischen Roman ständig durch Gewaltakte bedroht wird10. Im Roman unterstreichen diese beiden Situationen siegabhängigen Diktatfriedens den unabdingbaren Zusammenhang zwischen Krieg, Frieden und Herrschaft: Der König trägt allein die Verantwortung für den Frieden (vgl. V. 1305–1309); entsprechend wird seine herrschaftliche Leistung von seinen Räten an seiner Fähigkeit, Frieden zu gewährleisten, gemessen. Der vride bekommt einen rechtlichen Hintergrund, denn er beschreibt einen Zustand, der entweder als Waffenstillstand verabredet oder ausschließlich durch Gewaltanwendung erreicht werden kann. In diesem Kontext stehen Gewaltanwendung und Frieden nicht im Gegensatz zueinander – umgekehrt legitimiert die Absicht, einen Krieg zu beenden, um das damit verbundene politische Problem zu lösen, grundsätzlich die Anwendung von Gewalt11.

17Dabei ist die Ähnlichkeit der beiden Kriegsführungsmethoden und der dazu gehörenden Friedensaussichten und -formen etwas unerwartet, denn die Fehde zwischen Mutter und Sohn gehört (anders als die historisch konzipierten schottischen Kriege) zur fiktionalen Episode der Brieffälschung. Dieses Motiv stellt im Manekine-Stoff den bearbeitenden Autoren Erzählräume zur Verfügung, in denen grundsätzliche, im Alltag der Rezipienten vertraute Probleme gesellschaftlicher Kommunikation vor dem Hintergrund zeitgenössischer literarischer Diskurse (erfolgreich) gelöst werden. In diesem Sinn wird auch in der Königstochter von Frankreich ausführlich gezeigt, wie klug am englischen Hof kommuniziert und reagiert wird, als der vermutliche Tod der Heldin und der Betrug der Königsmutter erkannt werden. Hier betont der Erzähler, wie behutsam die Suche nach der Wahrheit gestaltet wird; wie genau die Boten befragt und die Entscheidungen getroffen werden u. a. m.12. Doch in der Verlängerung der Handlung verlagert Hans von Bühel (seiner funktionalen Absicht entsprechend) diese im Stoff vorgegebenen Schwierigkeiten allgemeiner höfischer Verständigung in den Bereich zeitgenössischer politischer Kommunikation bzw. Kriegsführung. Die fehlende Bereitschaft des Königs, mit seiner Mutter zu verhandeln, oder die erfolgslosen Friedensschlüsse zwischen Schottland und England werden aus dieser Perspektive heraus gemeinsam als (unkommentierte) Formen angemessener Friedenssicherung betrachtet und verstanden worden sein.

18Vor dem Hintergrund des Manekine-Stoffes ist klar, warum die Maßnahmen, die die Figuren im alemannischen Roman treffen, um die Freundschaft (und den Frieden) zwischen Frankreich und England nach der Familienzusammenführung zu demonstrieren, wesentlich ausführlicher beschrieben werden als die mangelhaften Friedensbemühungen in den Kriegssituationen. Die dazu inszenierten Praktiken der Friedensherstellung sind den Rezipienten vertraut – sie werden in der Verlängerung der Manekine-Handlung meistens als Hoffeste inszeniert. Diese Feierlichkeiten, die dem Aufbau von Vertrauen zwischen den beiden Herrscherfamilien dienen, schließen die gegenseitige Einladung in das eigene Land, die (mehrfach wiederholte) Einladung zu einem friedensstiftenden Festmahls (in dem der Prinz als Bindeglied zwischen den Protagonisten seine beiden Familien selbst bedient); die dazu gehörige freundliche Unterhaltung zwischen den Feiernden; den Tausch von Geschenken sowie die Veranstaltung von großen Turnieren in Paris und in London ein, an der alle Ritter beider Länder teilnehmen. Diese Szenen vermitteln in ihrer strukturierenden Parallelisierung den Eindruck eines höfischen Wetteiferns um eine freundschaftlich-friedliche politische Kommunikation13.

19Zu diesen Maßnahmen gehört auch das Versprechen gegenseitiger Hilfe im Kriegsfall, das zum Beispiel dazu führt, dass der englische König selbstverständlich davon ausgeht, dass seine französischen Verwandten ihm im zweiten Krieg gegen die Schotten helfen werden: Jch hoffe noch ein gt beschicht. / Die frantzosen, die lassent vns nicht; / Die sollent wir alle besamen / Vnd farn hin über in gots namen.“ (V. 857–860). Diese Form freundschaftlich begründeter Friedenssicherung wird im Roman erneut erwähnt, als der französische König in Rom vom Papst, seinem Beichtvater, Abschied nimmt. Auch er verspricht Beistand in späteren Kriegen gegen Heiden und Christen und schließt dabei selbstverständlich den englischen König ein:

V. 6574–6578: Mit frantzoß vnd engelschen zuͦ helffe, / Mit vnseren banern auch beiden, / Wider cristen vnnd wider heiden. / Vnd wer üch will zuͦ leid thuͦn, / Der sol von vns nit haben suͦn.

20Dieses Versprechen soll für einen allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Frieden in den päpstlichen Herrschaftsgebieten sorgen. Hier wird das Wort suͦn im Sinne von Frieden verwendet.

21Ähnlich gehört zu den Maßnahmen politischer Friedenssicherung (wenn auch indirekt) die theologisch und kirchenrechtlich begründete Bereitschaft des Papstes, allen reuenden Teilnehmern die Beichte öffentlich abzunehmen und die absolutio zu erteilen. Diese Szene liefert ein Musterbeispiel kommunikativer Sorgfalt: Zuerst fragt der Papst seinen französischen Gast nach dem Grund seines Besuches. Er versichert ihm, in keinem argen“ (V. 5383), sondern „in einem lutern suͦn“ (V. 5384) zu fragen und betont, er würde die Antwort geheim halten und nach allem [s]eins hertzen begyr“ (V. 5392) handeln. Der Ausdruck lutern suͦn kennzeichnet hier eine friedliche, redliche Haltung, die als Zeichen der Freundschaft verstanden werden soll. In diesen beiden letzten Fällen wird das Wort suͦn im erweiterten Sinn eines gesellschaftlichen oder privaten, freundschaftlich begründeten Friedens bzw. eines äußeren Zustands der „Ruhe und Sicherheit14“ gebraucht.

Die Heldin und der Friede

22Die letzte Stelle, an der in der Königstochter von Frankreich eine Bezeichnung für Friede (sn) in den Text eingefügt wird, betrifft nicht mehr die kämpfenden männlichen Protagonisten, sondern die Heldin. Als der junge König von England sich in sie verliebt, lehnt sie zunächst sein Angebot kategorisch ab, seine Geliebte oder später seine Ehefrau zu werden; zu groß sind ihre Sorgen, am Hof als Königstochter erkannt zu werden. Der König, der nicht mit einer Absage rechnete, reagiert zunächst mit Unverständnis, dann mit Gewalt: Er beauftragt den Marschall damit, sie zu überzeugen; ansonsten würde er ihn und seine Frau töten lassen. Die Königstochter erschreckt (V. 1162); proleptisch versteht sie, dass diese Situation viel Leid in ihr Leben bringen wird (Wann ich wol mich des verston, / Das ich noch mß groß lyden hon / Vnd mit sorg des tods warten bin.“, V. 1171–1173) – selbst wenn der König ihr sofort Schutz und Friede (schirm vnd sn“, V. 1176), verspricht.

23Wie in der letzten besprochenen Stelle meint der Ausdruck schirm vnd sn erneut einen Zustand allgemeinen Schutzes, friedlicher Ruhe und persönlicher Sicherheit. Damit deckt das Wort eine Grundbedeutung des mhd. Wortes vride bzw. bereits des ahd. fridu. Ahd. fridu wird einerseits im Umkreis von Rechts- und Gesellschaftsstrukturen (in Verbindung mit Krieg) definiert. Das Wort wird andererseits bald als Übersetzung von lateinisch pax benutzt, was sowohl eine Konventionalisierung als auch eine religiöse und moralische Erweiterung des Verwendungsfeldes bedeutet15. Im Althochdeutschen Wörterbuch werden zu meist geistlichen Textstellen folgende Übersetzungen angeboten: „Friedensbündnis zwischen Gott und den Menschen“, „Heil, Glück, Wohlergehen, sowohl materiell als auch geistig, oft als Heils- und Segenswunsch formuliert“; „Frieden im Religiösen und Geistlichen als innere Ruhe, Harmonie, vollkommene Glückseligkeit und Übereinstimmung des Menschen mit Gott, Seelenfrieden“, wobei dieser „göttliche, himmlische, ewige Frieden ein Geschenk, eine Verheißung Gottes oder Christi für die Menschen ist“ (vgl. „pacem relinqvo vobis“ = frido laz ih iu16“). Entsprechend thematisiert die volkssprachige Literatur des Hochmittelalters vride auf dieser zweiten, christlich-moralischen Ebene als göttlich gegebene Kraft, die im Inneren des Menschen als Tugend, in der Gesellschaft als Ideal einer perfekten gesellschaftlichen Ordnung determiniert wird. Hagenlocher beobachtet, dass im Alltag wie auch in der Literatur des Mittelalters trotz aller Legitimationsmuster „eine Spannung (…) zwischen christlichem Liebes- und Friedensgebot und der Anwendung von Gewalt17“ spürbar war, über die mehrfach reflektiert wurde: Neben ihrem Wunsch nach einem als Gegensatz von Krieg verstandenen ‚weltlichen‘ Frieden (pax armata), streben die frommen Laien des Hoch- und Spätmittelalters nach einem inneren, idealen Frieden (pax interiora, pax sancta), der nur auf der Suche nach Heiligkeit gefunden werden kann18. Diese pax interiora ist „eine Sache des Willens, Krieg [dagegen] eine Notwendigkeit19“, wobei das Ziel der Gläubigen sei, die Befreiung dieser Notwendigkeit in einer tätigen Seligkeit zu erreichen20.

24Hans von Bühel äußert sich an keiner Stelle zu diesem Gegensatz. Er ist (wie oben ersichtlich) auffallend still im Hinblick auf eine positive Beurteilung des dargestellten Kriegsgeschehens. Die ritterlichen Erfolge des englischen Königs werden nur sehr knapp gelobt: „Einen teglichen krieg er da bestalt, / Den trib er ritterlichen mit gewalt, / Das es im gieng nach seinem willen. / Nun wil ich aber hier gestillen.“ (V. 1543–1546). Dafür malt der Erzähler die katastrophalen Folgen der Kriege deutlich aus: die schwierige Flucht der Heldin und ihres Sohnes auf dem Meer, die Verwüstungen in England und in Schottland, den Hunger in der belagerten Burg, den Tod der Königsmutter u. a.m. In diesem Rahmen bietet der Roman seinen Rezipienten keine Rhetorik des Friedens, keine ausdrücklichen Überlegungen zu Fragen eines ethischen oder politischen vride an. Doch Autor und Rezipienten, die den Manekine-Stoff kennen, wissen, dass die Biographie der Heldin sich geradezu als eine Kristallisierung solcher Reflektionsmöglichkeiten erweist: Die junge Frau durchläuft Krisen, die symbolisch Unmoral und Sünde reflektieren (Inzest, Neid, Zorn, Lüge) und erprobt in den meisten Bearbeitungen des Stoffes als Antwort zu diesen negativen Lebenserfahrungen verschiedene Formen eines positiven Gleichgewichts zwischen Frömmigkeit und Herrschaft, also eine in ihrem Leben integrierbare Form der pax interiora. Auch Hans von Bühel konzipiert die Figur und die Biographie der Heldin besonders deutlich als Versinnbildlichung des Strebens nach dieser Verbindung von Politik und Heiligkeit, von äußerem und innerem Frieden; im alemannischen Roman versucht die Königstochter durch das gesamte Werk mit aller Kraft, den zu erklärenden Krieg abzuwenden bzw. den Frieden unter ihren Verwandten zu sichern.

25Die Rolle der Heldin in diesem Prozess wird dadurch unterstrichen, dass die Heldin, darin die anderen Romane der literarischen Gruppe weit überschreitend21, mit großer Sorgfalt als heilige (und heiligende) Figur konzipiert wird. Ihre extreme Frömmigkeit, die die Suche nach einer pax interiora begleitet, verleiht ihr in allen Handlungsräumen Geschlossenheit: Gleich in ihrer Kleinkindheit bewundern alle ihren tiefen Glauben; später meinen ihre ersten Wirte in England, sie sy von hymel kummen“ (V. 691). In London wie auch in Rom fällt sie durch ihre strenge Glaubenspraxis und ihre Askese auf: „Vor mitternacht leit sie sich nicht (…) Sie hett groß rüwen vnd andacht, / Das treib sie als byß mitternacht.“ (V. 4595, 4597f.). Parallel dazu ist die junge Frau stets bereit, unwürdige Aufgaben anzunehmen, die sie als adlige Dame demütigen (sie muss das Vieh hüten, das Geschirr waschen und einer Magd gehorchen, V. 4491–4505); damit gibt sie ihren Stand vollständig auf. Zu den weiteren Formen dieser heiligenden Askese gehört unter anderem die Trennung von ihrem geliebten Kind, der Rückzug auf die einsame Insel oder die dortige Einnahme unwürdiger Nahrung22. Diese Opferbereitschaft findet ihren höchsten Ausdruck darin, dass die Heldin sich lange weigert, in ihre frühere Stellung zurückzukehren. Als die Gäste in Rom nach der Mutter des sie am päpstlichen Hof bedienenden Kindes fragen, bittet der Papst den jungen Prinzen, seine Mutter zu holen. Die Königstochter lehnt zunächst ab, ihm zu folgen: „mein liebs kind, / Die herren mir z mechtig sind (…) / Mit den cleidern hr ich nit für sie.“ (V. 5869f., 5872). Daraufhin droht der Papst damit, die Königstochter und ihren römischen Herren „in den bann“ (V. 5926) zu schicken23. Die Heldin erscheint daraufhin am Hof und muss (trotz Wiedersehensfreude) neu lernen, sich ihren Verwandten und dem römischen Bürger gegenüber als Adlige zu verhalten: Die küni[g]in kam dorther gon, / Als ein begyn wol gethon“ (V. 6003f.); weiter: Die künigin stond stille zwar, / Vnd bedach si[ch] da gar eben, / Ob sie im ir hand wolt geben, / Dan sie hett herlicheit nach entwont.“ (V. 6016–6019).

26Für sie bedeutet die Rückkehr in die Welt das Ende der in ihrem gesamten Leben ausgeglichensten Phase, in der sie ihr Verlangen nach Heiligkeit ausleben konnte: Sie muss sich für ihre Mitmenschen erneut ‚opfern‘. Seit den beiden Fluchtszenen akzeptiert die Königstochter freiwillig diese Opferrolle24 und strebt entsprechend stets nach Beichte und Buße (vgl. Begründung des Verlassens der einsamen Insel). Trotz fehlender eigener Sündenhaftigkeit lebt sie in imitatio christi, um den Frieden, den ihre Gegner gefährden, zu schützen; sie wählt diese besonders zurückgezogene Askese freiwillig, nimmt in einer christologischen Geste die Schuld der Verwandten auf sich und büßt und beichtet stellvertretend für sie (V. 6119–6205). Damit versucht die stets zu Unrecht beschuldigte Heldin (extrem leidend, aber lange erfolgreich), den Gang der Geschichte abzuwenden. Sie ist ein homo pacificus, der in der conversio den inneren Frieden (pax interiora) findet25, während ihre Gegner durch die Last der Schuld, der Angst oder des Lasters (falsche Liebe, Zorn, gâchheit) geleitet werden und deshalb Zwietracht verursachen.

27Die Königstochter ist in diesem Konstrukt entsprechend die einzige klare Friedensstimme26: Sie allein weigert sich zum Beispiel anzunehmen, dass die gefälschten Briefe von ihrem Mann stammen; sie allein ist besorgt und handelt in Nächstenliebe zum Wohl ihrer durch den Krieg überforderten Freunde (zum Beispiel als die Marschallin erkrankt oder der römische Bürger die Fassung verliert); sie allein spricht gegen den zweiten Schottenkrieg und besteht auf das Ritual der Johannesminne27. Sie spürt in ihrer Verzweiflung, dass dieser Krieg ihren Tod herbeiführen wird:

V. 7921–7933: Sie schrey dicke, das man hort: / ‚O we mein hertz, du bist ermort / Das mein man vnd kind von mir will! / O we ich hatt leides zuͦ vil, / Das mein lieber vatter ist todt! / Nun ist dyß vil groͤsser not. / Dar zuͦ muͦß ich den tod auch han, / Das ist mir das liebste dar an; / Mein tod, der ist dar ein wint! / O we man vnd liebes kind, / Der tod beschicht mir von üch beiden; / Das ir woͤllent von mir scheiden, / O we, we, über alles we!

28In Nachahmung der Friedfertigen in der neutestamentlichen Bergpredigt Christi vollbringt die Heldin Taten vollkommener Tugend. Durch ihre heilige Frömmigkeit und die strenge, selbst auferlegte Askese wird sie zur Personifikation eines moralethisch auf Liebe, Nächstenliebe und Selbstlosigkeit beruhenden Friedens – jenes Friedens, den sie durch Selbstaufopferung schützen will und den nur sie verkörpern kann, weil er auf Tugenden basiert, die nur sie vertritt28. Diese besonders sorgfältig ausgemalte Konzeption der Heldin entspricht der (hoch-)mittelalterlichen religiösen Vorstellung eines wahren Friedens: Für Thomas von Aquin ist der Zustand wahren, heiligenden Friedens nur tugendhaften Menschen vorbehalten, die das wahrhaft Gute erstreben. Nicht die justitia ist Urheberin dieses Friedens, sondern die caritas29. Die Königstochter wird im Roman zur Personifikation dieses Friedens, dieser pax interiora, weil sie stellvertretendes Opfer jener Gesellschaft wird, die sich (wie auch die Rezipienten) diesen Frieden wünscht. Paradoxerweise zieht sie (ähnlich wie die schuldlosen Sünder Albanus oder Gregorius30) durch ihr Leben im Abseits die Gewalt auf sich. Wie die Heiligen definiert diese Opfer- und Leidensbereitschaft sie in der umgebenden, stets gewaltorientierten Gesellschaft.

29Darin liegt der vom Beginn des Romans an auf das Scheitern des Friedens hinweisende Widerspruch der Handlung: In der zeitgenössischen politischen Konfliktsituation, deren Prinzip Hans von Bühel in seinem Werk versinnbildlichen möchte, kann nur jene Heiligkeit zur pax (d.h. zum inneren und davon ausgehend zum äußeren Frieden) führen, die von den Herrschenden nicht erkannt wird. Diese Diskrepanz thematisiert ein Holzschnitt in den Grüninger-Drucken besonders eindeutig: Als die Königstochter zum zweiten Mal aufgefordert wird, an den päpstlichen Hof zu erscheinen, trägt sie (noch) die Kleidung einer Begine, als der sie an dieser Stelle im Text determiniert wird („Als ein begyn wol gethon.“, V. 5216).

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Abb. 2: Die Königstochter am päpstlichen Hof31.

30Selbst wenn der Drucker bemüht ist, die Trennung, die durch das Zusammenfügen zweier ursprünglich nicht zusammengehörenden Holzschnitthälften zu einem Bild verursacht wird, unauffällig zu gestalten (siehe Fliesen und Eingangstor)32, bleibt die Distanz zwischen den mit Trompeten, Festmahl und Kronen feiernden Königen und der zögernd eintretenden Begine offensichtlich unüberbrückbar. Keiner der Herrschenden bewegt sich oder schaut in ihre Richtung; niemand scheint sie wahrzunehmen. In dieser klaren Opposition werden Eigenlogik und Bedeutungsstruktur der Königstochter von Frankreich spürbar: Hier werden „exemplarische Konstruktion[en] konfligierender Ordnungen33“ bzw. Konstellationen thematisiert, die es erlauben, an einem singulären Fall ein grundsätzliches, soziokulturelles Phänomen zu versinnbildlichen – im Roman des Hans von Bühel die Unvereinbarkeit von Herrschaft und Friedenssuche, von pax armata und pax interiora.

Friede und Melancholie

31Die Königstochter wird auf diesem Holzschnitt als Versinnbildlichung des Friedens nicht wahrgenommen, weil ihre Stimme im Roman stets überhört wird: Die junge Frau schreit, singt und betet laut – zum Beispiel am englischen Hof, als sie annimmt, ihr Ehemann sei gestorben; während ihrer Überfahrten, als sie Pilgerlieder einstimmt; als sie vom zweiten Schottenkrieg erfährt. Von der Gesellschaft wahrgenommen wird sie allerdings ausschließlich aufgrund ihrer Tugendhaftigkeit, die ihre einzige Friedensstrategie bildet. Hans von Bühel konstruiert die Heldin am englischen (und später am französischen Hof) als eine hinter ihrem herrschenden Mann zurückgezogene Ehefrau, die diese Rolle akzeptiert und ihn handeln lässt. Sie äußert sich nie politisch, auch nicht gegen den Krieg, entwickelt keine argumentative Strategie als Friedensbefürworterin, sondern verzweifelt, am deutlichsten vor dem zweiten Schottenkrieg. Die Traurigkeit, die dem entspringt, charakterisiert ihre Haltung wie auf dem eben gezeigten Bild: Die Königstochter ist eine melancholische Figur, die zurückgezogen und traurig wirkt, besonders als ihre Sorgen und Ängste den verständnislosen Reaktionen ihrer Verwandten gegenübergestellt werden. Ohne in eine im Mittelalter als Todessünde eingestufte tristitia saeculi zu fallen, reagiert die Heldin tapfer, doch immer traurig auf die Katastrophen, die ihr Leben bestimmen34.

32Darin ist sie meiner Meinung nach mit einer berühmte(re)n, allegorisierten Darstellung des Friedens verwandt, nämlich mit der im guten Regiment sitzenden Figur der pax auf einer Freske des Ambroggio Lorenzetti im Palazzo Publico von Sienna:

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Abb. 3: Ambrogio Lorenzetti, Das gute Regiment, Sala della Pace, Palazzo Publico in Sienna35.

33Die alle vier Wände deckenden Fresken nehmen sich (wie der Roman des Hans von Bühel) vor, politische Zusammenhänge darzustellen und zu deuten36. Der Friede gehört zur Seite des guten Regiments: Der Künstler bildet ihn lässig sitzend neben den christlichen Tugenden der fortitudo, prudentia, magnanimitas, temperancia und der justitia mitten im Bild ein37. Die Figur hat gesiegt und ruht offensichtlich aus; die Eloquenz ihrer Darstellung überzeugt, ohne demonstrativ zu wirken.

34In der Nähe des guten Regiments, das unter den christlichen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung (fides, caritas, spes) thront, ist die Aussicht auf eine Befriedung der zeitgenössischen Gesellschaft am besten, selbst wenn diese Vorstellung im Hoch- und Spätmittelalter wie heute utopische Züge bekommt38. Allerdings klafft aufgrund der lässigen Position der Allegorie eine Lücke zwischen den Tugenden und dem Frieden – es ist dieselbe Lücke, die die Friedensvorstellungen in der Bergpredigt und den weltlichen Frieden, aber auch die Königstochter und ihre Verwandten trennt: Die Romanfigur strebt danach, in einem sowohl privaten als auch politischen, sowohl moralischen als auch religiösen Umfeld zu leben, in dem wie im guten Regiment aufgrund ihrer Tugendhaftigkeit weder Streit noch Tod denkbar sein sollten. In dieser Hinsicht personifiziert die Figur der Königstochter tatsächlich den Frieden ähnlich skeptisch wie die pax der Freske, denn sie erlebt, dass ihr Mann oder ihr Vater, die der weltlichen Justiz verpflichtet sind, kein friedensorientiertes, sondern ein legitimations-, gewaltorientiertes und deshalb weitgehend tyrannisches Verhalten an den Tag legen. Deren Erfolge im Krieg sind zwar bekannt; doch ihre Sünden erinnern an das Bild des falschen Regiments: Der alte französische König begehrt die Königtochter inzestuös, sodass das Mädchen fliehen muss; der junge englische König zwingt sie zunächst zur Ehe, später zur Aufgabe ihres ersehnten religiösen Lebens und tötet seine Mutter aus Rache; die Räte am englischen Hof schaffen es nicht, sich für das Leben der Königstochter einzusetzen, obwohl sie von ihrer Unschuld ausgehen u. a.m.

35In Lorenzettis Darstellung des guten Regiments trägt die Allegorie des Friedens, anders als die rechts vom Herrscher sitzende justitia, Attribute, die an antike Friedensfiguren erinnern. Ihr Kranz von Olivenzweigen, ihr Olivenast, aber auch die Rüstung und die Waffen unter ihrem Kissen kennzeichnen sie und verleihen ihr Macht; sie sitzt wie erwähnt in einer triumphierenden Pose. Dennoch fällt die Figur (ähnlich wie die Königstochter) durch die Melancholie ihrer Gesichtszüge auf:

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Abb. 4: Auszug von Abbildung 3.

36Sie scheint zu wissen, dass sie im guten Regiment immer wieder triumphieren könnte; doch auch dass der Krieg, der auf der gegenüberliegenden Wand dargestellt ist, immer wieder seine zerstörerischen Absichten durchsetzen wird. Erkennbare Feinde des Friedens werden auf der Seite des guten Regiments nicht dargestellt – vielmehr liegt im guten Regiment die Gefahr in dem Zerwürfnis der Menschen, die unmittelbar zu Füßen des guten Herrschers nach dem Gericht gerettet oder verurteilt werden. Deutlicher und logischer als die Romanfigur, die wie erwähnt keine konkrete Friedensstrategie entwickelt, kennt die Friedensallegorie diese Widersprüche. Deshalb hält sie Waffen und Rüstungen bereit – und bevorzugt es dennoch (wie die Betrachter des Bildes auch), von den Gefahren wegzusehen. Sie schaut in die Ferne und entscheidet sich für eine melancholische Haltung, die ihre zwiespältige Lage genauso deutlich wie ihren Triumph charakterisiert. Die politische Lektion, die sie vermittelt, ist eine duldende, ruhige, aber auch eine traurige: Die Hoffnung auf die Befriedung der politischen Gesellschaft ist gering. Ihre friedliche Ruhe, aber auch ihre Unsicherheit werden durch ihre Körperhaltung ersichtlich und öffentlich39.

37Im Roman zerbricht die Hoffnung der Königstochter Schritt für Schritt. Hans von Bühel konzipiert seine Figur ursprünglich als geduldige und starke junge Frau, die sich den Verfolgungen immer wieder stellt und stets probiert, in christlicher Zuversicht ein neues Leben anzufangen. Doch die Begine, die sie im Verlauf der Handlung geworden ist, wird gezwungen, ihren fürstlichen Stand wieder anzunehmen. Als ihr Sohn und ihr Ehemann fröhlich in den zweiten Krieg gegen die Schotten ziehen40, lehnt sie die Freude und die Trennung ab. Sie fürchtet Unheil – d.h. dass beim Friedensverständnis ihrer herrschenden Verwandten der Friede durch eine tyrannische Justiz und Politik erzwungen wird, die zwar die Verursacher der Konflikte besiegt; die jedoch den Frieden nicht sichern kann, weil sie den Waffenkrieg uneingeschränkt legitimiert. Am englischen Hof erwarten die Protagonisten zunächst vride und sn als Resultat einer wiederhergestellten, guten Kommunikation; doch die Brieffälschung zeigt unmittelbar, dass diese Vorstellung keinen Frieden sichert – weder im privaten Familienumfeld, noch in der Landespolitik. An dieser Stelle bestehen die englischen Herrscher auf eine strenge und spektakuläre Justiz, die einer Ablehnung der pax interiora der Heldin gleichkommt41. Vom Beginn der Handlung an ist der Kontext der Friedenssuche am englischen Hof weit entfernt von der Vorstellung jenes inneren Friedens, der eine auf caritas basierende Justiz, d.h. Vergebung und Neubeginn voraussetzt und ermöglicht42.

38Mit dieser Unterscheidung setzt sich der Künstler der Freske in Sienna auch auseinander, indem er sie in seiner Darstellung der Justiz deutlich werden lässt. Er stellt nämlich die Justiz dreimal dar und unterstreicht damit, dass justitia sowohl ein Regierungsprinzip als auch Regierungspraxis ist43: Die erste Darstellung der Justiz zeigt sie als weiße, unschuldige Figur, die unter den Füßen des herrschenden Teufels im schlechten Regiment geschlagen, festgebunden und trauernd liegt. Auf der rechten Seite des guten Regiments wird die zweite Justiz-Allegorie unter den Tugenden, die um den Herrscher sitzen, eingereiht (Abb. 3 rechts). Sie ist streng, trägt eine schwarze Krone und ein schwarzes Schwert, hält den Kopf eines Verurteilten in der Hand und ist von trauernden Soldaten umgeben44; sie strahlt im Vergleich zur ersten Darstellung eine triumphierende Sicherheit und Erhabenheit aus. Die dritte Allegorie der Justiz stellt sie nicht als Prinzip, sondern handelnd dar: Über ihrem Kopf hält die sapientia die Waage und ihr Buch in ihren Händen; sie selbst greift nach den zwei Waagschalen. In der linken Schale urteilt ein roter Engel (als justitia distributiva), tötet einen Gefallenen und rettet einen Gerechten, indem er ihm die Palme der Gnade reicht; in der rechten Schale garantiert ein weiß gekleideter Engel (im Sinne der justitia comutativa) durch Verteilen von Messgeräten die Gerechtigkeit im städtischen Regiment45. In diesem Bild wird deutlich, dass die Konzeption von Justiz, die der König von England und seine Räte in den zahlreichen Beratungen am englischen Hof vertreten, durchaus justitia distributiva (Verurteilung der Mutter, Schottenkriege) und justitia comutativa (Wahrheitssuche) verbindet. Allerdings ist auch die abwägende Darstellung der Justiz in Lorenzettis Freske durch eine Lücke vom Frieden getrennt – genauso wie in der Romanhandlung, in dem die strenge Haltung des Königs in Justiz und Regierung einen (unüberbrückbaren) Abstand zwischen den politisch und kriegerisch Handelnden und der friedenssuchenden Königstochter aufbaut46.

39Um ein friedenssicherndes Urteil strebt die Marschallin, als sie um Gnade für die Königsmutter bittet; doch die Handlung in der Königstochter von Frankreich soll die Entstehung und Weiterführung des ‚tyrannischen‘ Hundertjährigen Kriegs erklären – ihr Wunsch wird nicht erfüllt. Im Roman wird klar, dass nicht der Kampf gegen einen angreifenden Feind (wie in den Auseinandersetzungen zwischen Schottland und England) sondern der ‚innere‘ Krieg in der Privatheit der Familie (d.h. an den Höfen Englands und Frankreichs) wirklich verheerend ist47. Entsprechend kann in der narratio nur die fromme und liebende Königstochter zu einer echten Friedenserkenntnis kommen. Als Personifikation dieses Friedens spürt sie in ihrer Melancholie, dass der Krieg den Frieden bzw. die Liebe immer wieder in seinen Schatten stellt. Wie in Sienna ist im Roman die Trennung zwischen pax und justitia deutlich. Die Heldin versucht, durch ihr Opfer und ihre absolute Askese diese Trennung zu überbrücken; doch der Abstand zwischen den zwei Welten, die aufgebaut werden – der (religiös orientierten) Welt der Liebenden und der (weltlich politischen, tyrannischen) Welt der Strafenden – ist zu groß. Diese Erkenntnis drückt die Heldin durch ihre melancholische und traurige Haltung aus und zerbricht schließlich daran: Mitten im Hundertjährigen Krieg kann ein Friede, der „das radikale Gebot der Feindesliebe und des absoluten Gewaltverzichts48“ ins Zentrum setzen würde, weder intra- noch extradiegetisch Maßstab sein.